Bilder im Kopf

Schmerzhafter Prozess: Als Eltern mit den eigenen Erwartungen umgehen

Wenn die Kinder groß werden, ist das für die Eltern oft nicht einfach. Vor allem dann, wenn die Kinder Entscheidungen treffen, mit denen Mama und Papa nicht gerechnet hatten. Was dann passiert, beobachtet Stefanie Kortmann bei befreundeten Familien.

veröffentlicht am 22.07.2024

Ein Schnappschuss vom Schulabschluss, ein Foto vom neuen Führerschein oder tränenreiche Abschiedsbilder vor dem Abflug zu einem Austauschjahr in den USA: In meinem Bekanntenkreis gehen gerade einige Kinder große Schritte in die Welt des Erwachsen-Seins. Das passiert oft mit der Zustimmung ihrer Eltern, aber nicht immer.  

Wenn die Tochter kurz vor dem Abi die Schule schmeißt oder der Sohn völlig überraschend bekannt gibt, dass er fortan als Frau leben möchte, bleiben die Eltern ratlos zurück. Die Familienwelt steht für einen Moment still, nichts ist mehr so wie es sein sollte, oder doch?

Mit der Geburt eines Kindes beginnen wir Eltern, Bilder im Kopf zu formen. Es ist, als ob wir ein leeres Gemälde in den Händen halten, bereit, es mit leuchtenden Farben zu füllen. Diese Bilder sind inspiriert von unseren eigenen Erfahrungen, Wünschen und manchmal auch von unerfüllten Träumen. Mir geht es da nicht anders. Schon die Tatsache, dass ich hochschwanger die Großstadt verließ, um meiner Tochter auch eine Kindheit auf dem Dorf zu ermöglichen, beruht auf den Bildern in meinem Kopf.

Eigene Persönlichkeit

Die ersten Monate verlaufen in der Regel „nach Plan“, auch wenn schon sehr bald deutlich wird, dass das kleine Wesen einen eigenen Willen besitzt. Dennoch: Man bestaunt die ersten Worte, die kindliche Neugier, die unendliche Energie und hat dabei – naturgemäß – einen großen Einfluss auf die Entwicklung des Nachwuchses. Aber dann, irgendwann zwischen dem Grundschulabschluss und der Führerscheinprüfung, passiert es: Das kleine Kind, das unsere Hilfe und Unterstützung dringend zum Großwerden brauchte, entwickelt sich zu einer unabhängigen Persönlichkeit. Wie wunderbar – schließlich sollten wir Eltern genau das mit unserer Erziehung bewirken!

Nun trifft aber der junge Mensch auch weitreichendere Entscheidungen selbst, darunter möglicherweise auch Entscheidungen gegen die Erwartungshaltung der Eltern. Denen wird dann schlagartig klar: Die Bilder, die wir jahrelang im Kopf hatten, werden vielleicht nie Wirklichkeit – ein schmerzhafter Prozess, der innerhalb der Familie vieles auf den Kopf stellen kann.

Loslassen lernen

Wenn meine Oma oft sagte „kleine Kinder, kleine Sorgen, große Kinder, große Sorgen“, dann meinte sie vermutlich genau das: Es ist für uns Eltern wahnsinnig anstrengend, die Bilder im Kopf loszulassen und zu akzeptieren, dass wir ab diesem Zeitpunkt keinen Einfluss mehr auf die Lebensplanung unserer Kinder haben, weil sie – dank unseres Zutuns – nun für sich alleine Verantwortung übernehmen und bereit sind, alle damit verbundenen Konsequenzen – positiv wie negativ – zu tragen. In diesen Momenten müssen wir in unseren Köpfen aufräumen und Raum für die eigenen Bilder der Kinder schaffen. Diese neuen Bilder mögen anders sein, aber sie sind genauso wertvoll und bedeutend.

Meine Tochter Christina ist gerade erst zehn Jahre alt und die bunten Bilder, die sie noch immer fleißig produziert, hängen in unserer Küche an der Pinnwand. Weitreichende Entscheidungen sind noch nicht in Sicht, aber sie werden – wie in meinem Freundeskreis – sicher eines Tages kommen. Vielleicht sind diese Aufräumarbeiten im Kopf, wie auch das Ausräumen des Kinderzimmers am Tag des Auszugs, die schwierigste Prüfung für uns Eltern am Ende der Kindheit. Ich beobachte, wie die Mütter und Väter in meinem Umkreis versuchen, in dieser Zeit trotz harter Phasen der Trauer, Enttäuschung und Neuausrichtung mit Liebe und Respekt zu handeln, um das familiäre Band nicht abreißen zu lassen. Das ist ein guter Weg, wie ich finde, und für mich ein Blick in die Zukunft.


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