Selbstverständnis

Interview: Wie geht es Seelsorgerinnen und Seelsorgern?

Seelsorgerinnen und Seelsorger begegnen vielen Erwartungen. Doch wie geht es ihnen selbst? Wir haben mit dem Leiter der sogenannten Seelsorgestudie, dem Psychiater und Jesuiten Eckhard Frick, gesprochen.

veröffentlicht am 27.03.2022

Professor Frick, Sie haben bis 2015 etwa 8.600 katholische Priester, Diakone, Pastoral- und Gemeindereferentinnen und -referenten zu Lebensqualität und Berufszufriedenheit befragt. Was unterscheidet diese Berufe und Ämter von anderen Berufsgruppen, die eng mit Menschen arbeiten?
Wir sprechen ja in der Berufswelt oft von der Work-Life-Balance, als wären das verschiedene Welten. Wir differenzieren zwischen beiden, was auch seine Berechtigung hat. Aber es gibt auch Verbindungen. Diese Verbindungen sind im kirchlichen Leben ganz besonders stark. Das Persönliche, gerade die eigene Glaubensgeschichte, die eigene Spiritualität stehen dort mit der öffentlichen Verkündigung in einem engen Zusammenhang. Das ist auch gut so. Es ist nämlich sehr schnell spürbar, ob jemand nur über das Evangelium, den Glauben, Jesus Christus und Gott redet oder ob er oder sie persönlich einen Bezug dazu hat. Wir brauchen diese Durchlässigkeit mit all den Problemen, die sie mit sich bringt.

Welche Probleme können das sein?
Ein Problem kann sein, nie in der Freizeit und immer verfügbar zu sein. Von helfenden Berufen insgesamt wird gefordert, nicht einfach nachmittags um fünf ein Werkstück oder eine Baustelle stehen und liegen zu lassen, sondern Menschen zu helfen. Es wird ein höheres Maß an Engagement gefordert. Mehr als das, wofür die Person bezahlt wird.

Sie haben die spirituelle Dimension angesprochen, die Berufe in der Seelsorge ausmacht. Macht diese spirituelle Dimension zufriedener?
Wir haben insbesondere die sogenannte „geistliche Trockenheit“ untersucht, ein zweideutiges Phänomen. Auf jedem ernsthaften spirituellen Weg gibt es Krisenzeiten, in denen ich weniger begeistert bin. Es ist geradezu ein Merkmal einer ernsthaften Spiritualität, dass ich mit Schwierigkeiten in Kontakt komme und mich nicht in einer permanenten Euphorie befinde. Diese Trockenheit finden wir auch bei ganz bedeutenden Menschen. Denken Sie an Mutter Teresa von Kalkutta. Aus ihren Tagebüchern weiß man, was diese Frau an Gottesferne erlitten hat. Diese geistliche Trockenheit kann aber unter anderem dazu führen, dass Seelsorgende nicht mehr wissen, was sie in der Predigt oder im Religionsunterricht sagen sollen.

Seelsorgerinnen und Seelsorger haben auch sehr viel Alltag zu bewältigen. Treten hier auch besondere Herausforderungen an den Tag?
Eine Herausforderung liegt in der Vielfalt der Aufgaben und teilweise auch den Kompetenzen, auf die ein Theologiestudium nicht vorbereitet. Es gibt zwar allerhand Zusatzausbildungen, etwa was die Verwaltung und das Leiten angeht. Aber das Theologiestudium und auch die praktische Tätigkeit bereiten nicht auf diese Vielfalt vor. Hier wird eigentlich eine allgemeine Kompetenz erwartet: im Leiten, im Unterrichten, im kreativen Organisieren, in Organisationsentwicklung, in Personalführung, in Finanzverwaltung. Aber diese Kompetenz ist nicht ohne weiteres gegeben. Das trifft ganz besonders die Gruppe der Priester. Mittlerweile haben wir eine Differenzierung zwischen den sogenannten leitenden Priestern und den kooperierenden Priestern. Je nach Bistum heißen diese Aufgaben verschieden. Die leitenden Priester tun das, was ich eben gesagt habe. Die kooperierenden Priester haben diese Aufgaben nicht. Die einen fühlen sich dadurch entlastet und sagen, jetzt kann ich endlich meine Seelsorge machen. Andere fühlen sich herabgestuft als Priester zweiter Klasse. Das wird sehr verschieden erlebt.

Für Priester und Ordensleute gibt es in der römisch-katholischen Kirche zusätzlich die Besonderheit des Zölibats, der in der breiten Öffentlichkeit immer wieder kritisch diskutiert wird. Wie stehen die Befragten Ihrer Studie zum Zölibat?
Einige sind damit in der Krise und sagen, das würde ich nicht wieder machen. Diese Priester fühlen sich auch nicht genug unterstützt und haben den Eindruck, dass der Lebensentwurf, den sie einmal gewählt haben, nicht gut genug mitgewachsen ist. Andere halten ihn für gegeben und sehen ihn als einen tiefen Lebensinhalt an. Es reicht nun nicht wie in unserer Studie zu fragen, ob diese Priester das wieder tun würden. Sondern wir müssen die tieferen Qualitäten erfassen.

Welche Themen würden Sie heute stärker in den Blick nehmen?
Das betrifft zum Beispiel den Umgang mit dem Alleinsein. Führt der Zölibat zu einer Einsamkeit? Fehlt das, was in einer Beziehung gelebt werden kann? Wie wird das Fehlen – der Zölibat ist ja ein Fehlen von etwas – belebt und bewohnt? Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Im Extremfall geschieht es in missbräuchlicher Art: indem man auf Kosten anderer lebt und die eigene Position ausnutzt, um Gewalt anzuwenden und andere, vielleicht sogar Schutzbefohlene oder gar Kinder und Jugendliche in sexueller oder in narzisstischer Weise zu missbrauchen. Narzisstisch bedeutet in diesem Fall, dass ich für meinen eigenen Selbstwert als Guru oder als „Superpriester“ Gratifikation schöpfe. Das wäre ein Extrem, wo der Zölibat wirklich gefährlich und sogar kriminell werden kann. Die MHG-Studie zu sexuellem Missbrauch im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz hat das unter einem kriminologischen Aspekt beschrieben und spricht von einer Gruppe von unreifen Menschen, die in diese Lebensform hineingehen, um sich den Herausforderungen der Liebe und des Lebens in Beziehung nicht stellen zu müssen. Diese Gruppe gibt es sicher. Das haben wir auch in unserer Studie beschrieben, aber nicht unter einem kriminologischen Aspekt, sondern unter dem Aspekt der Ressourcen. Entweder stehen diese Ressourcen zur Verfügung oder sie müssen zur Verfügung gestellt werden, um die Seelsorgenden zu unterstützen, ihnen selbst ein Stück Seelsorge anzubieten.

Was ziehen Priester, die den Zölibat als bereichernd empfinden, daraus?
Der Zölibat wird ja in unserer Tradition in erster Linie nicht funktional begründet, sondern aus einer Freundschaft mit Jesus Christus heraus. Er ist ein Versuch, die eigene Frömmigkeit in ein Lebenskonzept zu gießen. Das hat seine Wurzeln im frühen Mönchstum und hat sich durch die Jahrhunderte entwickelt. In das sogenannte Weltpriestertum musste das erst hineinkommen. Das ist teilweise auch das Problem. Dass es nicht von derselben spirituellen Wachstumsphase getragen ist. Es ist – ohne als Ordensmann überheblich zu werden –teilweise für die Mitbrüder in den Diözesen erheblich schwerer, in diese Lebensform zu finden. Oft sind sie sehr auf sich gestellt und sitzen im Extremfall allein in einem riesigen Pfarrhaus. Es fehlt dieses Element, sich irgendwie zusammenzutun und sich gegenseitig zu stützen. Selbstverständlich gibt es zu einer Spiritualität des Weltpriestertums gute Ansätze. In den Strukturen der Diözese sind Priestergemeinschaften oder die Vernetzung zum Beispiel in geistlichen Gemeinschaften aber schwerer zu realisieren.

Warum werden Menschen heute Priester, Diakon, Pastoralreferentin oder Gemeindereferent?
Fangen wir vielleicht bei dieser problematischen Tendenz an, die die MHG-Studie nahelegt: Es könnte sein, dass das Priestertum für einige eine Nische ist, in die sie flüchten. Also ein Bereich, von dem sie vermuten, dass da ein klares Berufsbild existiert, dass es da eine bestimmte Amtstheologie gibt, die möglichst überhaupt nicht infrage gestellt wird. In diesem Fall ist der Grundmodus letztlich die Angst vor dem Wandel. Ich fange damit an, weil das das Stereotyp ist, das auch in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Und solche Motivationen gibt es.

Und wenn wir von dieser Gruppe absehen?
Es gibt eine ganze Menge Menschen – und um jede und jeden Einzelnen von ihnen können wir sehr froh sein –, die sehen, dass da etwas im Wandel ist. Kirche wandelt sich gerade, indem sie Kirche ist, die für andere da ist, wie Dietrich Bonhoeffer sagte. Auch bei unseren Bischöfen, die bisweilen ratlos erscheinen und nicht wissen, wie sie dem Strukturwandel begegnen sollen, erlebe ich eine Bereitschaft, auf die Zeichen der Zeit zu schauen. Die Seelsorge wird in 20 Jahren nicht mehr so sein wie heute. Wer heute studiert, wird als Priester, Gemeindereferentin oder in einem anderen Beruf für eben diese Kirche der Zukunft tätig sein. Wer heute einen Beruf in der Kirche ergreifen will, der sollte wissen, dass er oder sie genauso wie das System unter einem erheblichen Wandlungsdruck steht. Es braucht eine gewisse Bereitschaft, um in so ein System hineinzugehen.

Schauen wir zum Abschluss noch einmal auf die Seelsorgerinnen und Seelsorger von heute. Was wünschen sie sich für ihren Beruf, welche Bedürfnisse haben sie?
Ein Thema haben wir gerade schon gestreift, das ist die Gestaltung. Sie wollen mitgestalten können. Da wird auch der eine oder andere Aspekt der Entscheidungsprozesse infrage gestellt. Oft sind diese Prozesse sehr schwerfällig, mit viel Papier und unübersichtlichen Strukturen, sodass die einzelne Person oder Gruppe den Eindruck hat, nicht selbstwirksam zu sein. Es ist sehr wichtig, dass ich den Eindruck habe, mit dem was ich tue, etwas zu bewegen. Das muss gar nichts Riesengroßes sein. Wenn ich einen Kindergottesdienst so vorbereite, dass die Kids mitmachen und nicht nur gelangweilt sind, dann habe ich als vorbereitende Person den Eindruck: „Es hat sich gelohnt, ich konnte etwas gestalten.“ Dieser Wunsch nach Gestaltungsmöglichkeit, nach Selbstwirksamkeit, nach echtem Gespräch, nach echter Beteiligung, ist bei vielen da. Daraus ergibt sich auch, dass es nicht in erster Linie darum geht, wer welches Amt innehat. Es geht darum, dass die Dienstgemeinschaft spürbarer wird und dass ich mich mit meinem Dienst in diese Dienstgemeinschaft einbringen kann.

Prof. Dr. Eckhard Frick SJ ist Professor für Anthropologische Psychologie an der Hochschule für Philosophie München und für Spiritual Care und psychosomatische Gesundheit am Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München. Für die Seelsorgestudie befragte eine fünfköpfige Forschergruppe mit Wissenschaftlern u.a. aus Freiburg, Osnabrück und Paderborn unter der Leitung des Münchner Jesuiten rund 8.600 Menschen, die zu diesem Zeitpunkt in der Seelsorge tätig waren. Die Ergebnisse der Seelsorgestudie wurden 2017 im Buch „Zwischen Spirit und Stress. Die Seelsorgenden in den deutschen Diözesen“ (Echter Verlag, € 19,90) veröffentlicht.


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