Zweite Heimat
Zwischen Halbmond und Kreuz: Die Arbeit der Salesianer Don Boscos in Istanbul
Gestrandete Jugendliche, verfolgte Gläubige und ein Zufluchtsort inmitten einer Millionen-Metropole. Wie ein Priester aus Oberbayern am Bosporus landete, dort Gesichter zum Leuchten und einen Glockenturm zum Läuten brachte.
veröffentlicht am 22.02.2022
Es gibt Bier. Türkisches „Efes“ und amerikanisches „Budweiser“. Aus den Boxen dringt der Song „I’m with you“ von Avril Lavigne. Beim Griller stehen die Burschen und wachen sorgsam darüber, dass die Fleischlaibchen, die hier Köfte heißen, nicht auf dem Rost anbrennen. Sie machen Witze und erzählen einander an diesem lauen Abend, was sie untertags so erlebten. Die jungen Frauen streuen derweil orientalische Gewürze über ihre Salate, die sie gleich mit dem Gegrillten servieren. Es wird gekichert, gelacht, gescherzt – und plötzlich ist es still. Alle nehmen an den Tischen Platz, falten die Hände zum Gebet. „Gelebte Gemeinschaft ist es, was uns heute an diesem Abend zusammenführt“, sagt Bischof Lorenzo, Istanbuls höchster katholischer Geistlicher, „sie soll unsere Herzen öffnen, um einander zuzuhören und die Sorgen des anderen wahrzunehmen.“ Sorgen, das wird später klar, gibt es reichlich. Es folgt das „Vater unser“. Auf Englisch und übersetzt ins Türkische und Arabische.
Oratorium nennen die Salesianer diese Art der Zusammenkünfte. Ganz im Sinne ihres Gründers, des Heiligen Don Bosco, wird Fußball gekickt und gebetet, Spirituelles betrachtet und Alltägliches besprochen. Immer wieder steht Pater Simon Härting im Laufe dieses Abends mit kleineren Gruppen zusammen. Sieht man ihn so im weißen Polo-Leibchen und den schwarzen Shorts, wie er gestikuliert, lacht, zuhört, Rat gibt und spricht, könnte man ihn für eines seiner Schäfchen halten und nicht für deren Hirten. „Niederschwellige Jugendarbeit“ würden Pädagogen wohl das nennen, was in diesem Hinterhof in der Mitte von Istanbul geschieht. Ohne daraus eine große Sache zu machen, sind Pater Simon und die Seinen da. Und werden auch gebraucht. Denn die jungen Erwachsenen gleichen kleinen, bunten Fischen in einem viel zu groß geratenen Teich. Sie flitzen umher, dringen in ihnen unbekannte Tiefen vor und wissen doch nicht, wo ihr Ziel liegt und wann sie es erreichen.
„Was in Mossul geschah, lässt sich nicht mit normalen Worten beschreiben"
Da sind etwa die Brüder Andro und Marcel. Der eine mit dem Wuschelkopf und der Gitarre, der andere mit dem einprägsamen Blick, der schon viel gesehen hat. Zu viel vielleicht. Beide stammen sie aus Bagdad, der Hauptstadt des Irak. Später, als drinnen im Hof die Musik eine Nacht voll schöner Erinnerungen komponiert, erzählt Marcel draußen, was hinter den beiden liegt. „Wir sind chaldäische Christen und hatten, so kann man es ohne Übertreibung sagen, ein schönes Leben. Geld war vorhanden, Arbeit auch. Bis alles zu zerbrechen begann.“ Er ist 24 und berichtet von der Besatzung der Amerikaner, der Unsicherheit, den Anschlägen und dem, was Politspalten in Zeitungen mit „zunehmender religiöser Intoleranz“ betiteln würden. Für Marcel und seine Familie war es das Ende ihres bisherigen Lebens.
Schiitische Milizen stürmten die Wohnungen und Häuser, rafften an sich, was sie nur mitnehmen konnten. „Diesmal, sagten sie, nehmen wir euch nur die Habseligkeiten, aber wenn wir zurückkehren, und ihr noch immer da seid, dann auch euer Leben.“ Also Flucht. Raus aus Bagdad, hin zu einem sicheren Ort. Die Familie zog es in den Norden des Landes, in die Gebiete, die von den Kurden beherrscht werden und die auch nach dem US-Einmarsch als vergleichsweise sicher und stabil galten. Gerade die Stadt Mossul wurde zu einem Zufluchtsort für viele Christinnen und Christen aus dem Süden. Solange, bis dort die Terrorkrieger des selbsternannten „Islamischen Staates“ einfielen. „Was dann geschah, lässt sich nicht mit normalen Worten beschreiben“, sagt Marcel. „Vielleicht“, er hält inne und kratzt sich am Kopf, „gibt es biblische dafür. Denn schon dort stand geschrieben, dass wir als Christen verfolgt und geprüft werden.“ Erneut musste die Familie fliehen. Diesmal blieb nur die Grenze und das Nachbarland, die Türkei. „Wir hatten alles verloren, waren Fremde und bekamen das dort auch rasch zu spüren. Anfangs in Anatolien, wo ich dir als Christ nicht empfehlen würde, groß dein Kreuz zu zeigen, wenn du halbwegs unbeschadet durch den Alltag kommen willst. Erst jetzt, hier in Istanbul, ist es um einiges besser.“
Das Oratorium ist für die jungen Männer und Frauen zu einer Art neuen Heimat geworden
Marcels Geschichte ähnelt der all dieser jungen Männer und Frauen im Hof der Salesianer, die man sonst für ganz gewöhnliche Gäste einer netten Grillparty halten könnte. Aber sie alle sind Christen aus dem Nahen Osten und wurden in dieser Stadt an der Pforte von Asien nach Europa zu Gestrandeten einer aus den Fugen geratenen Welt. „Ganz ehrlich“, sagt Andro, Marcels Bruder, „ich wäre abgeglitten, gäbe es Pater Simon und die anderen Brüder hier nicht. Das Oratorium ist uns zu einer Art neuen Heimat geworden.“ Es ist ein Ort, an den die jungen Erwachsenen zurückkehren können. Immer. Besonders in Momenten, in denen sie das Moloch dieser Stadt sonst zu verschlingen droht.
Denn Istanbul hat sich gewandelt, ist ins Unermessliche gewachsen und mit den Wirrnissen der ganzen Region zu einem Zentrum der Geflüchteten geworden. Allein vier Millionen Menschen aus Syrien beherbergt die Türkei offiziell, seit der Krieg das Nachbarland in den Abgrund riss. Bereits vor der Machtübernahme der Taliban stieg auch die Zahl der Ankommenden aus Afghanistan. Sie erhalten im Unterschied zu den Syrern keinen offiziellen Schutzstatus im Land. Das und die wirtschaftliche Krise der Türkei, eine kollabierende Währung sowie explodierende Preise, verhärten die Fronten. In ersten Städten kam es zu Ausschreitungen gegen die Zugewanderten. Videos von Hetzjagden auf Flüchtlinge kursieren in den sozialen Netzwerken. Wer kann und genügend Geld hat, heuert Schlepper an, die das Heil in Europa versprechen, sodass Menschen bei den Überfahrten ihr Leben riskieren.
Ein Leben im Wartestand
Und Andro, Marcel und die anderen? Sie warten. Und das schon seit Jahren. Während in dieser Zeit Millionen von Flüchtlingen durch Istanbul gezogen sind, um von hier aus auf illegalen Wegen ins benachbarte Griechenland und damit in die EU zu gelangen, blieben die Christinnen und Christen, die die Salesianer um Pater Simon betreuen. Warum? „Weil wir nicht irgendwohin illegal reisen wollen, sondern ganz offiziell, mit Papieren, mit einer Einladung und damit der Chance auf ein geregeltes neues Leben“, sagt Marcel. Die Familien sind beim UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) offiziell als solche registriert und warten auf eine Einladung von einem der Staaten, die am Verteilprogramm teilnehmen. Die USA oder Kanada sind genauso darunter wie Neuseeland und etwa Australien, was Marcels Wunschziel wäre. „Wir haben Interviews gemacht und wurden durchleuchtet, alles ist überprüft, doch keiner von uns weiß, wann der entscheidende Anruf kommt und wir aufbrechen können“, sagt Marcel, „es kann jeden Moment so weit sind, oder auch noch Jahre dauern. Zumindest war es bei Freunden so.“ Ein Leben im Wartebahnhof, wie lässt sich das überhaupt meistern? Marcel überlegt und deutet auf das Haus der Salesianer, sein Herz und hoch in den Himmel. Dann zeigt er auf die Innenseite seines Handgelenks, auf dem arabische Schriftzeichen ein Tattoo formen: „Ohne die Finsternis“, steht dort, „wirst du nie die Sterne sehen.“
Harter Tobak, auch für Pater Simon. Tag für Tag arbeitet er mit den Geflohenen. Am Abend, wenn er, so wie heute, mit ihnen grillt. Am Morgen, wenn er und seine Mitbrüder die Kinder der Familien betreuen. Und am Nachmittag, wenn er Sprechstunde hält und die Verzweifelten sich aufreihen, die in dieser Stadt ohne die Hilfe der Salesianer nicht mehr über die Runde kämen. „Klar ist das nicht immer leicht. Oft sind es Geschichten von Leid und Entsagungen“, sagt er, „aber ich möchte, dass junge Menschen, die in irgendeiner Form am Rande stehen, das Gefühl haben, es kümmert sich jemand um sie, setzt sich für sie ein, hört zu und engagiert sich auch in Dingen, die sonst keinen interessieren. Das war das Hauptanliegen unseres Gründers Don Bosco und es ist auch meines.“
Pater Simon Härting: "Staunen ist eines der zentralen Wörter der Bibel“
Dass er, der Oberbayer, überhaupt hierher an den Bosporus gelangte, ist wohl Fügung. Denn eigentlich sah er sich nach seinem Studium für das Laien-Pastoral berufen und drohte der Kirche bei einem Vatikan-Aufenthalt gleich ganz abhanden zu kommen: „Mir ging das ganze klerikale Getue dort ziemlich auf die Nerven, weil es mit dem realen Glauben vor Ort nichts zu tun hat.“ Erst bei den hemdsärmeligen Salesianern, die Dinge anpacken und in ihrer Jugendarbeit an vorderster Front stehen, fühlte er sich aufgehoben. Dass auf seine erste Station in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche in Deutschland gleich die Entsendung nach Istanbul folgte, ist für den 38-Jährigen Bewährungsprobe wie Chance zugleich. Er ist hier vieles in einem: Ein Helfer mit dem offenen Ohr für die Flüchtlinge im Oratorium. Ein Seelsorger der deutschsprachigen Gemeinde, der schon mal per Rad oder dem Schiff seine Schäfchen in der ausufernden Metropole aufsucht. Und auch ein Priester, der in der prachtvollen Heilig-Geist-Kathedrale von Istanbul Messen für die fremdsprachigen Gemeinden der Stadt zelebriert. In seinem Zimmer im Konvent hängt ein großes Plakat. Darauf steht: Staunen. „Es ist eines der zentralen Wörter der Bibel“, sagt Pater Simon, „dort heißt es immer wieder: und da kamen die Jünger und staunten. Gerade dieses Staunen lässt sich in Istanbul gut erlernen. Etwa wenn türkische Polizisten in Begleitung eines afrikanischen Außenministers, der hier beten wollte, in die Kathedrale kommen, sich erst ganz neugierig umsehen, sich später begeistert mit dem Bischof fotografieren lassen und ihn dann noch bitten, das Kreuz auf der Brust für das Bild entsprechend zu adjustieren.“
Nur eines betrübte Simon, der mit Mitbrüdern aus Italien, Haiti und Ghana die Don Bosco-Gemeinschaft Istanbuls bildet. Er führt hinüber in die Kirche, steigt erst Treppen und dann Leitern hoch, entfernt Spinnweben und klettert zuletzt durch eine Luke hinaus aufs Dach. Und plötzlich liegt Istanbul unter ihm. Ein göttlicher Ausblick und zuletzt doch ein Ort der Angst. Denn gerade am Glockenturm der 1846 errichteten Kathedrale nagte der Zahn der Zeit. Verputz bröckelte ab, selbst ein Einsturz war nicht mehr auszuschließen. Simon setzte sich hin und schrieb Briefe, holte Kostenvoranschläge ein und bat um Spenden. Kirchenglocken in Istanbul, das sollte funktionieren, ist doch vielen in Europa die Rolle der Stadt als zentraler Gedächtnisort des Christentums bewusst.
Als es längst dunkel ist, endet auch das Oratorium im Hof des Seelsorge-Zentrums. Nur langsam trotten die jungen Frauen und Männer nach draußen. Auf der Straße plaudern sie noch miteinander und lachen, bevor sich ihre Wege wieder für einige Zeit in dieser Riesenstadt verlieren. Davor aber sehen sie noch hoch zum frisch renovierten Turm der Kathedrale. Selbst in der Schwärze der Nacht leuchtet dort oben das Kreuz ganz hell.
Mehr Informationen über die Arbeit der Salesianer Don Boscos und der Don Bosco Schwestern im Kongo bei Don Bosco Mission Bonn, Don Bosco Mission Austria und der Missionsprokur der Don Bosco Schwestern.
Die Türkei in Zahlen
- Hauptstadt: Ankara
- Einwohner: 84 Millionen (Schätzung 2020)
- Fläche: 783.562 km2
- Religion: Offiziell sind 99% der Türkinnen und Türken muslimisch. Ein Religionsaustritt oder -übertritt ist im Unterschied zu anderen islamisch dominierten Staaten in der Türkei möglich. Daneben gibt es geschätzt 100.000 Christen, von denen die Mehrzahl der armenischen Gemeinde angehören, und 11.000 Juden.
Flüchtlinge in der Türkei
Mit fast vier Millionen Flüchtlingen gilt die Türkei laut UNHCR als größtes Aufnahmeland der Welt. Die meisten von ihnen stammen aus Syrien. Zuletzt nahm auch die Zahl der aus Afghanistan Fliehenden rasant zu. Der häufig kritisierte „Flüchtlingspakt“ der EU mit Präsident Recep Tayyip Erdogan sah ab dem Jahr 2016 Brüsseler Hilfszahlungen von 6 Milliarden Euro an die Türkei vor. Mit der Wirtschaftskrise kippte zuletzt die Stimmung gegenüber Flüchtlingen im Land. Der Druck auf Syrer steigt, in ihre Heimat zurückzukehren. Auch die türkische Grenze zu Griechenland, und damit zur EU, wird erneut durchlässiger.