Emotionale Ausnahmesituation

Das Wunder der Geburt: Drei Mütter erzählen

Manche Mütter erleben die Entbindung ihres Kindes als wundervoll und selbstbestimmt, andere lässt die Erfahrung verstört oder sogar traumatisiert zurück. Drei Mütter erzählen ihre ganz persönliche Geschichte.

veröffentlicht am 30.12.2022

Vanessa Zobel: „Nicht auf einer Wellenlänge“

Die Schwangerschaft von Vanessa Zobel fällt mitten in die Hochphase der Corona-Pandemie und so richtig genießen kann sie sie nicht. Neben der coranabedingten sozialen Isolierung plagen sie übermäßige Übelkeit und Schwangerschaftsdiabetes. im Januar 2021 setzen die Wehen ein. Es ist zwei Wochen vor dem errechneten Geburtstermin.

Kurz nach Mitternacht platzt die Fruchtblase und Vanessa und ihr Mann fahren zum Krankenhaus. Wie in Coronazeiten üblich, wird die werdende Mutter zunächst alleine aufgenommen. Ihr Mann darf erst am frühen Morgen unter der Geburt dazukommen. „Zuerst lief alles gut. Die Wehen kamen in großen Abständen. Ich fühlte mich wohl, hatte einen schönen Blick aus dem Fenster auf die verschneite Landschaft.“

Als am Mittag eine neue Hebamme übernimmt, ändert sich die Stimmung im Kreißsaal. „Rückblickend habe ich das Gefühl, dass wir nicht auf einer Wellenlänge lagen“, sagt Vanessa. Die Geburt ist mittlerweile weit fortgeschritten. Schon ist Antons Köpfchen zu sehen. Doch dann geht es nicht weiter und die Probleme beginnen. Ohne Absprache wird Vanessa an einen Wehentropf gehängt, was jedoch nicht zu mehr Wehen, sondern zur Verschlechterung von Antons Herztönen führt. „Das ist ein Nachteil von künstlichem Oxytocin, über den wir nicht informiert wurden und der den Geburtsverlauf klar bestimmte.“

Vanessa spürt, wie die Hebamme betriebsamer wird. Ein Assistenzarzt und eine Oberärztin kommen hinzu. Die Ärzte entscheiden sich dafür, eine Saugglocke einzusetzen, um einen Kaiserschnitt zu man vermeiden, weil Anton schon so weit im Geburtskanal steckt. „Ich weiß nicht, ob ein Kaiserschnitt zu dem Zeitpunkt besser gewesen wäre. Das Schlimme ist, dass wir einfach nicht über Optionen, Risiken, Nebenwirkungen aufgeklärt wurden. Es wurde einfach nur gehandelt“, sagt Vanessa heute.

Die Eltern sind damals so beeindruckt von der Situation, dass sie die Entscheidung nicht in Frage stellen. „Man verlässt sich unter Schmerzen, unter Anstrengung auf die Erfahrung der Ärzte und Hebammen.“ Vanessa erlebt den Einsatz der Saugglocke als schmerzhaft und übergriffig. Die gesamte Geburt als fremdbestimmt. „Wie ein hilfloser Käfer lag ich auf dem Rücken. Ohnmächtig zu handeln oder einzugreifen.“ Nach dem zweiten erfolglosen Saugglockeneinsatz schreit ihr Mann die Oberärztin an, sie solle eine andere Lösung finden.

Es ist 17.20 Uhr, als die Entscheidung für einen Notkaiserschnitt fällt. Innerhalb von Sekunden ist Vanessa auf dem Weg in den OP, wo um 17.23 Uhr unter Vollnarkose die Bauchgeburt stattfindet. Ihr Mann bleibt alleine zurück. Er weiß nicht, wie es seiner Frau und dem Baby geht und bricht im Kreissaal zusammen. Der kleine Anton muss derweil eine Atemstarthilfe wegen des Geburtsstresses erhalten. Er wird zur Überwachung auf die Kinderintensivstation verlegt. Keine 2.500 Gramm wiegt er und gilt damit als Frühgeburt nach Gewicht. Informiert werden die Eltern darüber nicht.

Erst abends, als Vanessa wieder zu sich kommt, sieht sie ihren Sohn zum ersten Mal. Aber die Vollnarkose hängt ihr nach, sie erlebt den Moment nicht wirklich bewusst. Bis heute sind da Lücken: „Ich kann mich nur teilweise an die Wochenbettzeit erinnern, aber da sind keine Emotionen“, sagt sie traurig. „Ich war anwesend, habe funktioniert. Aber da war niemand, mit dem ich darüber sprechen konnte. Ich war dankbar über meinen gesunden Sohn, aber empfand keine Freude über seine Geburt, sondern nur innere Leere, Müdigkeit, Erschöpfung.“

Ihre Nachsorgehebamme schätzt die Lage falsch ein. Für sie sind es normale Probleme einer jungen Mutter. Erst Wochen später findet Vanessa einen Online-Selbsttest auf den Seiten des Vereins „Schatten und Licht e.V.“ und erkennt deutlich, dass sie offensichtlich an einer Wochenbettdepression leidet. „Meine Erkrankung wurde ganz klar durch mein Geburtstrauma ausgelöst“, sagt sie heute. Mit Hilfe einer Therapie bessert sich ihr Zustand nach und nach. Anton wird bald zwei. Das Verhältnis zwischen Mutter und Kind hat sich normalisiert. Aber die Erinnerungen an die traumatische Geburt belasten immer noch. Ob sie ein zweites Kind haben will, kann Vanessa derzeit noch nicht beantworten.

Gianna Schmidt: „Natürlicher Vorgang“ 

Wenn die dreifache Mutter Gianna Schmidt eines gelernt hat, dann ist es, dass ihre Kinder bei der Geburt ein hohes Tempo vorlegen. Ihren ersten Sohn bekommt sie mit einer Beleghebamme im Krankenhaus. Nach gut vier Stunden hebt sie Theo aus dem warmen Wasser der Gebärwanne. Eine schöne Erfahrung, die die (Wahl-)Leipzigerin darin bestärkt, ihr zweites Kind im Geburtshaus zu bekommen.

Wieder geht es am frühen Morgen los und wieder geht es schnell. „Den Geburtsverlauf erzähle ich gerne in Minutenschritten“, lacht Gianna. „Um 7.30 Uhr kam ich im Geburtshaus an. Da war ich schon so weit, dass ich nicht mehr in die Wanne konnte. Um 7.56 Uhr ist die Fruchtblase geplatzt, um 7.58 Uhr kam der Kopf und um 8.01 Uhr lag Bruno in meinen Armen. Es war eine wunderschöne Geburt.“

Eineinhalb Jahre später ist Gianna wieder schwanger. „Ich wusste, dass es das letzte Mal sein würde, habe die Zeit sehr bewusst erlebt und mich intensiv auf die Geburt vorbereitet“, erzählt sie. „Es war eine leichte Schwangerschaft und ich habe sie sehr genossen.“ Nach den guten ersten Geburtserfahrungen will Gianna ihr Kind diesmal mit einer Hebamme zu Hause bekommen. Sie sind mittlerweile nach Hildesheim gezogen und das nächste Geburtshaus ist 30 Kilometer entfernt.  

Es ist Giannas Geburtstag und obwohl sie bereits sieben Tage über Termin ist, feiert sie fröhlich in größerer Runde. Als sie in der Nacht mit eindeutigen Wehen aufwacht, will sie sich am liebsten umdrehen und weiterschlafen. Aber ihr Baby hat andere Pläne. Während die beiden Jungs im Elternbett weiterschlafen, weckt Gianna ihren Mann. Um vier Uhr rufen sie die Hebamme an, die verspricht, ihr Bestes zu geben, rechtzeitig da zu sein. Aber auch sie wohnt nicht um die Ecke.

In der Zwischenzeit beziehen Gianna und ihr Mann Arbeitszimmer, den sie als Geburtszimmer vorbereitet haben, machen Musik an und sanftes Licht. Gianna versucht die Wehen zu veratmen und schon etwas mitzuschieben. „Das klappte nicht, daher wusste ich, dass der Muttermund noch nicht ganz auf ist.“ Als die Fruchtblase platzt, sagt sie aufgeregt zu ihrem Mann: „Jetzt kommt Wilma.“ Die Hebamme ist zu diesem Zeitpunkt noch unterwegs, aber Wilma ist schneller. Deutlich spürt Gianna, wie sie sich ihren Weg durch den Geburtskanal bahnt und ihr Köpfchen austritt.  

Ihr Mann stützt sie im Kniestand und redet ihr beruhigend zu. Kurz darauf erblickt Wilma mit einem temperamentvollen Schrei das Licht der Welt. Die Eltern fangen sie mit den Händen auf, genauso wie Gianna es sich vorher ausgemalt hatte. Es ist Samstag, 4.44 Uhr - die Geburt hat nicht mal zwei Stunden gedauert. Als die Hebamme eintrifft, bietet sich ihr ein friedliches Bild: Gianna liegt entspannt im Geburtszimmer, mit dem Baby auf ihrem Bauch, und stillt. Wilma ist noch nicht abgenabelt. Mit Hilfe der Hebamme kommt die Plazenta zwei Stunden später.

Gianna hat dieses Erlebnis stark gemacht, sagt sie heute. „Ich habe dieses Kind alleine auf die Welt gebracht. Daran bin ich sehr gewachsen.“ Für die 36-jährige Beratungsstellenleiterin bei einem Lohnsteuerhilfeverein ist mittlerweile klar, dass sie selbst als Hebamme arbeiten und Mütter begleiten will. „Ich denke, dass die Geburt ein natürlicher Vorgang ist und wunderbar funktionieren kann. Mit wenigen Ausnahmen, die in der Natur eben vorkommen. Aber wenn man den Fokus immer auf diese Ausnahmen legt, dann sieht man gar nicht mehr, dass das Große und Ganze ein richtig toll eingespieltes System ist.“

Olga Kunz und Julia Emmenecker: „So viel Frauenpower“

Julia Emmenecker (links) mit Olga Kunz

Seit zwölf Jahren sind Olga Kunz (rechts im Bild) und Julia Emmenecker Freundinnen und das Jahr 2022 hat sie noch enger zusammengeschweißt. Denn Julia begleitete Olga als Hebamme während ihrer Schwangerschaft und der Geburt. „Sie an meiner Seite zu wissen, hat mir sehr geholfen“, sagt die 33-jährige Stuttgarterin. „Ich konnte meine Schwangerschaft richtig genießen und war nur zweimal beim Arzt, weil Julia die anderen Vorsorgetermine übernommen hat.“

Die Grafikdesignerin erlebt eine unbeschwerte Zeit. Besonders gerne erinnert sie sich an ein Frauentreffen, einen Monat vor dem errechneten Geburtstermin. „Ich wollte bewusst keine Baby-Shower-Party, sondern habe mich mit sechs Freundinnen zu einem Frauenkreis in einem Yogastudio getroffen. Wir haben gemeinsam unser Frausein und meine Schwangerschaft gefeiert und meine Freundinnen haben mir ermutigende Briefe geschrieben.“

Die liest Olga in den letzten Tagen vor der Entbindung. „Da waren so viele motivierende Worte, an die ich mich unter der Geburt erinnert habe“, sagt sie dankbar. Zuvor muss sie sich jedoch von ihrer Schwangerschaft lösen. „Für mich waren diese Monate so schön und ich war traurig, dass es vorbei war.“ Den errechneten Geburtstermin am 3. August erlebt sie als sehr emotional. „Ich habe viel geweint, aber dann waren mein Partner Fabi und ich bereit für unser Baby.“

Am nächsten Abend kommt Julia zur Untersuchung vorbei. Von Wehen ist im CTG noch nichts zu sehen. „Es ist schwer abzuschätzen, wann es losgeht. Manche Frauen haben Wehen und es dauert trotzdem noch zwei Wochen. Bei anderen denke ich, das hat noch Zeit, und das Kind kommt kurz darauf.“ Genauso läuft es bei Olga. Nur drei Stunden nachdem Julia das Haus verlassen hat, kündigt sich die erste Wehe an. Olga zieht sich ins abgedunkelte Schlafzimmer zurück.

Um 23.20 Uhr steigen sie und Fabi in ihren VW-Bus und fahren nach Tübingen zum Geburtshaus. Von der einstündigen Fahrt bekommt Olga kaum etwas mit. „Ich war komplett im Tunnel und habe mich nur auf mich konzentriert“, erzählt sie. Als sie in den Hof des Geburtshauses hineinfahren, reicht Julia ein Blick ins Gesicht ihrer Freundin und sie weiß: Das Baby wird heute kommen. Eine Untersuchung bestätigt, die Hälfte ist schon geschafft.

„Im Geburtsraum hat Olga ihr Ding gemacht. Ich habe nur Positionswechsel vorgeschlagen und nach den Herztönen gehört“, erzählt die Hebamme. „Julia war mein Fels, sie hat mir unglaublich viel Sicherheit gegeben und es lag so viel Frauenpower in der Luft, dass ich mich richtig stark gefühlt habe“, ergänzt Olga begeistert. Auch Fabi weicht nicht von ihrer Seite und um 3.15 Uhr liegt die kleine Lena in ihren Armen. Ein bewegender Moment – auch für Julia.

„Vertrauen ist in der außerklinischen Geburtshilfe besonders wichtig. Eine gute Freundin begleiten zu dürfen, ist Luxus“, sagt die Hebamme, die früher in einer Klinik gearbeitet hat und den Unterschied kennt. „Klinikhebammen wollen gute Geburtshilfe leisten, aber sie haben keine Zeit. Wenn ich eine einzige Frau begleite, kann ich kleinste Veränderungen wahrnehmen und darauf reagieren. Das geht nicht, wenn ich fünf Gebärende gleichzeitig betreue.“

Dennoch ist sie überzeugt, dass Frauen auch gute Geburtserlebnisse haben können, wenn nicht alles glatt läuft. „Dazu muss man Eltern auf Augenhöhe begegnen und sie einbeziehen. „Ideal wäre eine Person, die sich darum kümmert, während die anderen das Medizinische übernehmen. Aber es fehlt am Personal“, sagt Julia, die sich als Vorsitzende des Hebammenverbandes Tübingen politisch für Veränderungen stark macht. Sie hofft, dass sich die Lage in Zukunft verbessert.


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