Alles anders
Wenn Mama schwer krank ist: Drei Mütter berichten über ihr Leben mit ME/CFS
Mütter sind Dreh- und Angelpunkte des Familienlebens. Sie organisieren den Alltag, gehen zum Elternabend, jubeln beim Fußball, verarzten Schrammen, hören zu. Doch was, wenn Mama nicht mehr kann? Und zwar nicht nur einen Tag, sondern vielleicht für immer?
veröffentlicht am 28.06.2024
Eva und Jana* leiden an einer Krankheit, die nicht nur ihr Leben, sondern das ihrer Familien völlig auf den Kopf gestellt hat. Beide sind nach einer Corona-Infektion nie mehr richtig gesund geworden. Und wie die Hälfte aller Post-Covid-Patienten haben sie ME/CFS entwickelt. Eine verbreitete chronische Erkrankung, die als Folge einer Infektion ausbrechen kann. Sie kennt mehrere Schweregrade bis hin zur völligen Pflegebedürftigkeit und ist bis heute kaum erforscht.
ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) umfasst etwa 200 Symptome, zu denen neurologische Einschränkungen, Herzrasen, Muskelschwäche, Gedächtnisstörungen, extreme Reizempfindlichkeit und vor allem eine massive, allumfassende Erschöpfung gehören. Das Perfide: Schon eine leichte körperliche, geistige oder psychische Belastung kann den Zustand verschlechtern. Bis hin zu einem Crash, nach dem von einem auf den anderen Tag ein normales Leben nicht mehr möglich ist.
Eva erlebte diesen Crash 2023. Die 47-Jährige Mutter von zwei Söhnen ist seither berufsunfähig, überwiegend ans Bett gefesselt und auf Hilfe angewiesen. „An schlechten Tagen fühle ich mich, als hätte ich einen Bleimantel an. Ich habe einen starken Druck im Kopf, mein Kreislauf ist im Keller. Dann schaffe ich es mit Mühe noch die paar Meter ins Bad. Mehr geht nicht.“
Interview per Sprachnachricht
Eva berichtet diese Dinge per Sprachnachricht im Liegen – oft leise und stockend. Immer wieder muss sie Pausen machen, weil das Erzählen zu anstrengend wird. Sie gehört zu den schwer Betroffenen, kann nur kurze Strecken laufen, weder Bücher lesen noch Filme schauen, wenn die Gedanken kreisen und die Zeit im Schlafzimmer lang wird. Die Ingenieurin musste ihren Beruf aufgeben, kann nicht am Alltag ihrer Familie teilnehmen, geschweige denn ihn bewältigen.
Sich um die Belange der Kinder kümmern, Wäsche waschen, Hausaufgaben betreuen, etwas unternehmen, Ben und Jonas zur Bücherei oder zu Freunden fahren – das alles ist nicht mehr drin. „Ich kann es nicht leisten und brauche gleichzeitig selbst Unterstützung. Für meine Familie eine immense Belastung. Ich merke, wie alles zerbricht und kann nichts dagegen tun.“ Zugleich fehlt in ihrem nahen Umfeld das Verständnis für ihre Krankheit.
Etwas, das viele Menschen mit ME/CFS erleben. Das bestätigt auch Anke, die 2022 eine Regionalgruppe des Selbsthilfevereins Fatigatio e.V. gründete. Die 52-Jährige leidet als Folge eines Pfeiffer’schen Drüsenfiebers an einer mittelschweren Form. „Es ist kaum zu vermitteln, wie unsere Erkrankung funktioniert. Dass es nicht hilft, dagegen anzukämpfen, sondern es so nur schlimmer wird.“ Es gibt keine zugelassenen Medikamente. Therapien existieren nur im Teststadium.
Radikale Akzeptanz
„Unser Weg ist im Moment radikale Akzeptanz. Wir müssen hinnehmen, dass unser vorheriges Leben vorbei ist“, sagt Anke. Eine Riesenherausforderung. Auch ihr Mann und die mittlerweile großen Kinder mussten Abschied nehmen. Von Anke, der engagierten Lehrerin und Mutter, die in einer Bigband spielte, in der Flüchtlingshilfe aktiv war, viel Sport machte. „Ich habe mein Leben geliebt. Aber wir kommen nur zur Ruhe, wenn wir nicht mehr versuchen, uns zurück zu kämpfen.“
Nach vorne zu kämpfen, gibt es immer noch genug. Mit dem Gesundheitswesen, Versicherungen, medizinischen Diensten, Ämtern, der Krankenkasse. Bis heute wurde Eva noch kein Rollstuhl bewilligt, obwohl er die einzige Möglichkeit wäre, vor die Tür zu kommen. Bis heute fehlt auch ausreichende Unterstützung durch eine Haushaltshilfe, die der Familie im Alltag beisteht. Neben Eva im Bett stapeln sich Aktenordner mit Anträgen, Ablehnungen und Widersprüchen.
Ihre Freundin Jana aus der Selbsthilfegruppe ist ebenfalls schwer betroffen. Die dreifache Mutter erfährt mehr Unterstützung in ihrem Umfeld. „Mein Mann steht hinter mir und hat die Krankheit akzeptiert. Ich habe schon früh Pflegegrad 3 erhalten, deshalb konnte er seine Arbeitszeit reduzieren.“ Auch ihre Eltern helfen – holen die Kinder ab, kochen, übernehmen manchmal die Wäsche. An drei Nachmittagen kommt eine Haushaltshilfe, die auch nach den Kindern schaut.
Zu viele Reize
Die Mutter aber kann ihnen niemand ersetzen. Jana schmerzt es, dass sie nicht mehr wie früher für sie da sein kann. „Das ist für mich der größte Verlust. Ich sitze auf der Zuschauerbank, beobachte sie beim Aufwachsen, aber kann sie nicht mehr aktiv begleiten“, sagt die 42-jährige Projektleiterin. Die Söhne Luis und Pablo sind zehn und zwölf Jahre alt. Tochter Anna ist sieben. „Unser Großer kommt schon in die Pubertät. Ich habe das Gefühl, ihre Kindheit zu verpassen und es bricht mir das Herz.“
ME/CFS zu haben und Mutter zu sein, ist ein Teufelskreis. Um ihren Zustand zu stabilisieren oder zu verbessern, müssen Eva und Jana mit ihren Kräften haushalten, ihre Energie einteilen. „Ich kann Menschen sehr schlecht um mich herum ertragen. Die Reize sind mir zu viel“, macht Jana klar. Eigentlich müsste sie sich von ihren Kindern fernhalten. „Aber sie können ihre Bedürfnisse ja nicht ständig zurückstellen. Deshalb überschreite ich immer wieder meine Grenzen. Dann kommt die Quittung und es geht mir wieder schlechter.“
Auch Eva hat schon häufig erlebt, wie normale Alltagstätigkeiten sie plötzlich über die Belastungsgrenze bringen. „Ich erinnere mich, wie ich in einer besseren Phase mal Brot als Wegzehrung für meine Familie geschnitten habe. Sie wollten einen Ausflug machen.“ Gleich danach fühlt ihr Arm sich seltsam taub an. Es wird so schlimm, dass sie ihn mehrere Tage nicht benutzen kann und eine Schlinge tragen muss.
„Auf Aktivität folgt oft ein Buß- und Bett-Tag, wie wir es nennen“, sagt Jana. „Dann wache ich gerädert auf. Gesicht und Hände sind geschwollen, ich habe einen dumpfen Kopfschmerz wie bei einem Kater. Mir tut der ganze Körper weh, von den Haarwurzeln bis zum großen Zeh. Ich kriege schlecht Luft, habe Halsschmerzen. Alles fällt schwer. Auch meine Gedanken sind verlangsamt.“ Dann muss sie das Bett hüten, kann ihre Kinder kaum um sich ertragen.
Die Kinder kämpfen mit der Situation
Auch Evas Söhne Ben und Jonas hören immer wieder: ‚Mama kann nicht, sie braucht Ruhe. Ihr seid zu laut, ihr seid zu viel.‘ „Wenn Erwachsene kaum verstehen, was ME/CFS bedeutet, wie soll man dann seinen Kindern begreiflich machen, dass man sie rausschickt und sie trotzdem so unendlich lieb hat“, sagt Eva verzweifelt. „Ich merke, wie sie den Antrieb verlieren, in der Schule nachlassen, ihre Hobbys aufgeben. Zu sehen, wie sie leiden und nichts tun zu können, ist grausam.“
Janas Sohn Luis kämpft seit einiger Zeit besonders mit der Situation. „Er ist so feinfühlig und lustig, aber auch verschlossen. Unser mysteriöses Kind“, sagt seine Mutter, die sich sorgt, weil es dem Zehnjährigen nicht gut geht. „Er macht sich viele Gedanken, um das Leben und Sterben.“ Seine Schwester Anna ist anders. „Sie hatte schon immer die Fähigkeit, Dinge hinzunehmen und das Gute zu sehen, neigt aber dazu, sich selbst sehr zurückzunehmen.“
Bis es ihr auch zu viel wird. „Vor Kurzem hat sie ein selbstgedichtetes Lied gesungen: ‚Als ich drei oder vier war, da kam Corona. Es machte meine Mama krank. Jetzt ist sie weg und immer ganz erschöpft.‘ Sie hat es mit einer lustigen Melodie gesungen und dabei immer wieder zu mir herübergelinst“, erzählt Jana. An einem der folgenden Tage brach es dann aus ihr heraus. „Ich mache mir Sorgen um Luis. Ich will, dass er wieder lacht.“
Momente der Nähe
An diesem Tag kommen viele Tränen. Anna beweint die Krankheit ihrer Mutter, die das Leben der Familie so schwer macht. „Ich habe sie in den Arm genommen und ihr gesagt, wie sehr wir sie lieben und wie wichtig sie ist. Sie hat sich dann ganz klein gemacht, sich zu einer Kugel zusammengerollt und ich habe sie gehalten, obwohl es für mich in dem Moment sehr anstrengend war.“ Schließlich schläft die Siebenjährige beruhigt ein. Etwas hat sich gelöst.
Solche Momente emotionaler Nähe sind besonders wichtig. Auch Eva erlebt sie mit ihren Söhnen, die meist abends zu ihr ins Zimmer kommen. „Das ist nicht immer leicht für mich, weil ich dann erschöpft bin. Aber ich versuche, ihnen eine Stütze zu sein, mit ihnen zu reden, weil es das Einzige ist, was ich im Moment geben kann.“ An guten Tagen kann Eva eine Weile mit Ben und Jonas spielen, auch mal zehn Minuten Vokabeln abhören und ihren Geschichten lauschen. Das tut allen gut.
„Wir sind im Leben unserer Kinder natürlich präsent, aber reduziert“, sagt Jana. Ihr Einsatz als Mutter fehlt im Alltag und so knirscht es häufig im Familiengefüge. Für die Kinder bedeutet die Erkrankung ihrer Mutter weniger Ansprache, mehr Medienkonsum, aber auch mehr Selbständigkeit. „Ich kann nicht wie andere immer ein Auge auf alles haben und habe nicht die Kraft, Probleme zu lösen. Deshalb sorgen meine Kinder mehr für sich selbst“, so Jana.
Dankbarkeit für kleine Dinge
Aus der geselligen, temperamentvollen Frau, die früher kaum stillsitzen konnte, ist ein Mensch geworden, der mehr in sich ruht und Energie aus dem Inneren schöpft. Weil es anders nicht geht, aber auch, weil sie es heute kann. „ME/CFS zwingt uns, eine neue Identität aufzubauen. Ein anderes Leben zu leben. Die Krankheit ist wie ein Diktator, gegen den wir nicht aufbegehren können. Und doch spüre ich diesen starken Kern in mir – wie ein Leuchten. Und den kriegt die Krankheit nicht!“
Kinder lernen durch Vorbilder. Eva, Anke und Jana leben ihnen vor, wie man Kraft schöpft aus Nähe und Gemeinschaft. Wie man Gewinn auch im Verlust erkennt. Wie man akzeptiert, was nicht zu ändern ist und Dankbarkeit für kleine Dinge empfindet. Das alles sind Mosaiksteine, die das Leben für die drei starken Frauen lebenswert machen. „Wir haben gelernt auszuhalten, dass es derzeit keine Heilung gibt, ohne jedoch die Hoffnung für die Zukunft aufzugeben“, sagt Jana.
*Namen der Mütter und ihrer Kinder geändert